Opfer nationalsozialistischer Gewalt an unserer Schule: Die Gedenken-AG der Martin-Luther-Schule präsentiert ihre Arbeit
Zum Beispiel Hermann Reis: 1896 geboren in Alsfeld, 1915 „Kriegsabitur“ an der Oberrealschule (MLS) in Marburg, bis 1918 Soldat im Ersten Weltkrieg, Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg, Frankfurt und Marburg, von 1925 bis 1933 Anwalt in Marburg, in einer Kanzlei mit Willi Wertheim, 1933 Berufsverbot, 1941 Zwangsumsiedlung in das „Ghettohaus“ Heusingerstraße3, dann Schwanallee15, 1942 Deportation nach Theresienstadt, 1944 Ermordung in Auschwitz
Feierstunde in der Aula zum Holocaust-Gedenktag
In einer Feierstunde hat die Gedenken-AG der Martin-Luther-Schule Marburg am 27. Januar 2016 ihre Arbeit zum Thema „Opfer nationalsozialistischer Gewalt an unserer Schule“ vorgestellt: Am Holocaust-Gedenktag eröffnete die Schülergruppe unter Leitung des Ethik- und Politiklehrers Arne Erdmann in der Aula eine Dauer-Ausstellung mit sieben großen Infotafeln, die ausgehend von MLS-Schüler-Biographien den alltäglichen Schrecken der NS-Herrschaft dokumentieren sollen. Die Tafeln werden künftig dauerhaft im Treppenaufgang von der Cafeteria zu den neuen Schulräumen zu sehen sein. Finanziert wurde das Projekt von EMS, dem Förderverein der Martin-Luther-Schule.
„Wir klären Schülerinnen und Schüler über unsere Schule im Nationalsozialismus auf und widmen uns außerdem dem Gedenken an die Opfer des Naziregimes“, heißt es in der Selbstdarstellung der Gedenken AG. 2015 putzte die Arbeitsgruppe anlässlich des Jahrestags des Pogroms gegen die Marburger Synagoge die Stolpersteine von Hermann Reis und Hermann Jacobsohn, sie interviewte den Zeitzeugen Heinz Düx, lud am 9.11.2015 einen Podcast zur Reichspogromnacht am 9.11. 1938 hoch und bot „Marburg in der Nazi-Diktatur“ als Projekt bei den Projekttagen an.
Durch aufwändige Recherchen im Staatsarchiv, in Opferdatenbanken und mit Hilfe der Marburger Geschichtswerkstatt trugen die AG-Mitglieder Informationen über ehemalige Schüler der MLS zusammen, die in den 1940er-Jahren in die NS-Todesmaschinerie gerieten oder ihr knapp entkamen. „Ein Höhepunkt der AG-Arbeit war der Besuch des Zeitzeugen Sally Perel, Stichwort Hitlerjunge Salomon, der im Jahr 2014 vor rund 200 Schülern und Schülerinnen in der Aula seine Geschichte erzählt hat“, berichtet Arne Erdmann, „oder auch im Jahr 2013 der Besuch der Schule durch Hazel Pollak, die Tochter des überlebenden Ehemaligen Max Walldorf.“
Den Schüler Nico Meinert (Q4) reizt an der Mitarbeit in der Gedenken-AG die Möglichkeit historische Forschungen zu betreiben, er sieht sich aber auch gesellschaftlich in der Pflicht. „Ich glaube, dass wir eine Verantwortung haben, uns angesichts der wiederaufkommenden fremdenfeindlichen Bewegungen in Europa mit dieser Epoche der Geschichte zu beschäftigen, damit wir für Ausgrenzung jeglicher Art sensibilisiert werden“, sagte der 18-Jährige.
Auch aus Sicht von Schulleiter Karl Goecke leistet die Gedenken-AG einen wertvollen Beitrag zur Erziehung demokratiemündiger Bürger. „Gerade auch angesichts aktueller Übergriffe im Kontext der Flüchtlingskrise ist es unabdingbar, Schülerinnen und Schüler mit der Vergangenheit zu konfrontieren, und sie für gefährliche Auswüchse zu sensibilisieren“, betonte er anlässlich der Ausstellungeröffnung. „Dazu tragen insbesondere die so wertvollen Besuche von Zeitzeugen bei, deren persönliches Leid und Erleben diesen Abschnitt der deutschen Geschichte nachhaltig begreifbar machen, nachhaltiger, als jeder Unterricht es zu leisten vermag.“
Während der Feierstunde am 27.1. wurden nicht nur die Früchte der AG-Arbeit dokumentiert, sondern dem Anlass entsprechend auch gebetet und musiziert. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Marburg, Amnon Orbach, sprach auf Hebräisch ein Gebet zum Gedenken an die Opfer des Holocaust. 1987 hatte er bereits die in den Treppenaufgang zur Aula eingelassenen Tontafeln mit den Namen der Opfer darauf eingeweiht und Kaddisch gesprochen – das jüdische Totengebet. Die gelassen-melancholischen Gitarrenstücke unter anderem von Paco de Lucia und Al Di Meola, die die Schüler Niels Schormann und Leonhard Ruchholtz vortrugen, rahmten die Redebeiträge würdig ein.
Zum Beispiel Karl Fritz Bode alias „Wolfgang Rollin“ 1896 geboren in Cölbe, Dichter, politischer Aktivist und „Querulant“, Abitur an der Oberrealschule (MLS), 1939 eingeliefert in Haina, 1941 ermordet in Hadamar
Heinz Düx: Ein imponierender Zeitzeuge
„Die Arbeit der Gedenken-AG ist eine gebührende Antwort der Schule auf die NS-Gewaltverbrechen“, sagte schließlich der 92-jährige Zeitzeuge Heinz Düx, der 1942 Abitur an der MLS gemacht hatte, zu einem widrigen Zeitpunkt für einen Jungen wie ihn – ausgestattet mit Gerechtigkeitssinn, Widerspruchsgeist und sozialdemokratischen bis sozialistischen Neigungen.
Düx erinnerte sich in seiner Rede an gefährliche Hänseleien seitens seiner Mitschüler („In der linken Ecke sitzt der Heinz, der ist Staatsfeind Nummer eins“), aber auch an zwei Lehrer, die entgegen der offiziellen Ideologie vom Tausendjährigen Reich und vom Darwinismus im Unterricht die Werte der Französischen Revolution hochhielten, die Milieutheorie unterrichteten und ihn schützten.
Für die Gedenken-AG ist Düx als Zeitzeuge besonders interessant, denn er war nicht nur während der NS-Zeit Schüler im Widerstand, er hat sich auch nahezu sein ganzes Berufsleben hindurch mit den Gewaltverbrechen der Nazis befasst. 1945 wurde er noch als Jurastudent Mitglied im Entnazifizierungsausschuss der Marburger Philipps-Universität. Schließlich war er in den 1960er-Jahren Untersuchungsrichter im Frankfurter Auschwitzprozess, beschäftigte sich ab 1970 mit Wiedergutmachungen für NS-Opfer.
Oft sah er sich bei seiner Arbeit mit politischen und gesellschaftlichen Widerständen konfrontiert. 1992 erinnerte er anlässlich seines 50-jährigen Abiturs ebenfalls in einer Rede an der MLS an die unrühmliche Vergangenheit der Schule, die sich 1933 als eine der ersten Schulen Deutschlands „Adolf-Hitler-Schule“ nannte. Zur versprochenen Veröffentlichung der Rede im Jahrbuch der Schule kam es vor 25 Jahren nicht. „Es ist mir eine besondere Genugtun, heute hier zu sein“, betonte er jetzt anlässlich der Ausstellungseröffnung.
„Noch ist unklar, wie es im nächsten Schuljahr mit der Gedenken-AG weitergeht“, sagte Arne Erdmann. Alle bisherigen AG-Mitglieder machen nämlich 2016 Abitur. Einige jüngere Schülerinnen und Schüler haben allerdings bereits Interesse an der AG-Arbeit bekundet. „Sollte tatsächlich eine neue Gruppe zustande kommen, gibt es die Idee, die Fluchtgeschichten ehemaliger Schüler unserer Schule zu recherchieren, die vor den Nazis ins Ausland fliehen konnten“, so der Ethiklehrer.
Zum Beispiel Willi Wertheim: 1892 geboren in Hatzbach, 1911 Abitur an der Oberrealschule Marburg, Jurastudium, 1919 eröffnet eigene Anwaltskanzlei, ab 1925 bis 1932 Gemeinschaftskanzlei mit Hermann Reis, 1933 Berufsverbot und Flucht nach Frankreich, 1937 Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit, 1943 nach Lublin/Majdanek deportiert und ermordet