Schon kurz nach Betreten des Haupteingangs der Uniklinik auf den Lahnbergen springen mir die großen schwarz-weiß-Bilder von Matthias Schüßler ins Auge.
(Fotos von Jothan Schüßler und Nico Scholz)Lebensgroße Portraits neben großformatigen Gesichtern nehmen meinen Blick in Gefangenschaft, ich kann mich nicht loseisen.
Dabei hab‘ ich so viel zu tun und nur wenig Zeit. Anlage aufbauen, meine Truppe bestehend aus Annika, Nele, Marlen, Johanna, Moritz und Tim so gut es geht einsingen. Ich schicke ein stilles Gebet gen Himmel, dass Finn rechtzeitig aus London zum Auftritt einfliegt, denn mein dritter Bass reitet ein Turnier in Süddeutschland. Was Musiklehrerinnen so für Probleme haben. Es klappt alles, alle sind da, wir haben sogar noch 8 Minuten Zeit bis zum Auftritt – Luxuszeitfenster für Mädchen für letzte Handgriffe vorm Spiegel.
Auf dem Weg zu den Mikros gehen wir wieder an den großen Fotografien vorbei, mein Blick fällt erneut auf das Banner mit dem lebensgroßen Mann mit Vollbart, der mich an eine Filmfigur erinnert. Schau weg, Konzentration ist angesagt! Ich mache doch eine Bemerkung und stelle fest, die Kids kennen die Filmfigur nicht. „Er heißt Tom“, sagt Nele. Uups! Schlagartig wird mir klar, dass ich mich besser auf das heutige Event hätte vorbereiten müssen. Was sind das für Menschen auf diesen Fotos? Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, es ist Freitag Nachmittag, ich muss mich echt konzentrieren. Erster Song, meine Kids können das, sie produzieren einen wunderschönen Klang. Ich habe so ein Gefühl von Überraschung im Nacken, die ca. 100 Besucher haben wohl nicht mit unserem Sound gerechnet. Es folgt der Block aus mehreren Reden unterbrochen von unseren Gesangsnummern. Die Redebeiträge sind durchweg ziemlich persönlich, unerwartet für mich. Sie würdigen nicht nur die Arbeit des Fotografen Matthias Schüßler, sondern scheinen alle irgendwie selbst beteiligt zu sein, was ich von den Vernissagen meines eigenen „Familien-Künstlers“ nicht so in Erinnerung habe. Den letzten Song „Leaving on a jetplane“ widme ich dem Ehepaar Alexandra und Matthias Schüßler, naja, ein kleines bisschen war ich doch vorbereitet. Die Kids geben im Refrain alles, den lieben sie nun mal. Ich bin ganz schön stolz auf sie, merke ich so.
Zum Schluss offener Sextakkord, super-schön gemeistert. Gefühlt bräuchte ich jetzt eine Infusion und einen Rollstuhl, begnüge mich aber mit einer Flasche Mineralwasser und einem der Sofas. Die Anstrengung fällt von mir ab und ich freue mich über zahlreiches Lob und ein neues Engagement der Truppe im Sommer. Jetzt tu ich endlich das, was ich schon vor zwei Stunden machen wollte. Ich stelle mich an das Geländer gegenüber dem Ausstellungsbanner und schaue nicht mehr weg.
Wie kommt man auf die Idee, Menschen mit Ton einzuschmieren und sie dann zu fotografieren?
Die ca. 150 ausgestellten Fotografien sind aus einer weit größeren Zahl ausgewählt – hat er gesagt Zehntausend? Aufgedruckt auf LKW-Plane wirken die eindrucksvollen Gesichter wie gemeißelt, die Risse im Ton auf Nasen, Augen und Stirnpartien wirken wie die Oberfläche uralter steinerner Skulpturen. Und doch geht der individuelle Ausdruck der Modelle unter der Tonschicht nicht verloren. Das konnte ich am lebendig vor mir stehenden „Modell“ Paco Leuschner sehen, dessen fröhlich-offenes Gesicht auch unter der Tonmaske hervorleuchtet. Während wir uns unterhalten, hole ich meine Vorbereitung nach: Paco arbeitet im „Projekt Kernbach“, unter anderem ein Wohnprojekt des Elisabeth-Vereins, in dem Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, sowie Eltern Hilfe bei seelischen Problemen erhalten. Die reizarme Gegend im Dorf Kernbach, wo sich sprichwörtlich Hase und Igel gute Nacht sagen, soll den Menschen helfen, zu sich zu finden und in der Gemeinschaft neues Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Unter anderen sind es diese Menschen, die Matthias Schüßler fotografiert hat, ihre wunderschönen Gesichter unter einer Schutzschicht der Öffentlichkeit zeigt und so daran erinnert, dass Schönheit
a) oft im Verborgenen liegt und b) immer nur im Auge des Betrachters zu finden ist.
En Voc! freut sich darauf, diese Menschen kennenzulernen, sie haben uns zu sich nach Kernbach eingeladen, um dort mit ihnen zu feiern und zu singen!
Betina Griesel